Der Stil V. STYLE
Die begonnene systematisierende Sichtung der mündlichen Lehre in der Zeit des R. Akiba mußte allmählich zur Durchbrechung des Niederschreib-Verbots führen. Wann dies geschah, ist bis heute noch nicht endgültig geklärt worden. Nach Ansicht vieler Gelehrten wurde die Mischna bereits durch R. Jehuda Hanassi niedergeschrieben, während andere nicht minder bedeutende der Meinung sind, daß sie erst gemeinsam mit der G’mara schriftlich fixiert worden ist. Wie dem auch sei, so wurde sicherlich die Durchbrechung des Niederschreib-Verbots bedingt, wie so vieles im Laufe der Geschichte der mündlichen Lehre, durch die tragischen Schicksale des jüdischen Volkes, in deren Verlauf Meister und Schüler nicht mehr die nötige Muße und ein von Sorgen unbeschwertes Leben besaßen, um die Gesamtheit der mündlichen Überlieferung weiterhin auswendig zu lehren und zu lernen. Um für alle Zeiten der Gefahr des Vergessens zu begegnen, wurde die mündliche Lehre niedergeschrieben. Da es sich aber hierbei um die Übertretung einer strikten Vorschrift handelte, die man sich nur aus gegebener Notwendigkeit heraus im Interesse der Lehre selbst erlaubte, so hat man die Lehre nur so weit niedergeschrieben, als dies tatsächlich erforderlich war. Der Stil des Talmuds zeigt uns, daß man sich stets dessen bewußt war: die Lehre wird niedergeschrieben — nicht, um dem „Mündlichen” schriftlichen Ausdruck zu verleihen, sondern nur mit der Absicht, dafür Sorge zu tragen, daß es nicht vergessen werde. Der Charakter des Mündlichen sollte trotz der Niederschrift gewahrt bleiben. Dies wurde erreicht durch die Methode, das gesprochene Wort so niederzuschreiben, wie es tatsächlich ausgesprochen worden ist und durch die Niederschrift nichts daran zu ändern. Davon erhielt diese schriftliche Fixierung der Lehre ihre Eigenart. It was inevitable that the systematizing examination of the Oral Teachings which began in Rabbi Akiva’s time would gradually lead to a breaking of the writing-down ban. To this day, when this happened has not been settled definitively. In the view of many scholars, the Mishna was already written down by Rabbi Yehuda Hanasi, while other no less distinguished figures believe that it was only together with the Gemara that it was recorded in writing. Whatever the situation, like so much in the history of the Oral Teachings, the breaking of the ban on writing them down was undoubtedly caused by the tragic destinies of the Jewish people, in the course of which neither masters nor disciples had the requisite leisure or trouble-free existence which enabled them to continue teaching and studying the entire body of the oral tradition by heart. In order to counter the danger of oblivion for all time, the oral teachings were written down. However, since this constituted the violation of a strict rule, permitted only in the interests of the Teachings themselves and out of factual necessity, the Teachings were only written down to the extent actually required. The style of the Talmud shows us that there was always an awareness of this state of affairs: the Teachings are written down — not in order to provide written expression of the “oral” material, but only with the intention of ensuring that it was not forgotten. The oral character of the material was to be maintained despite being written down. This was achieved by means of a method in which the spoken words were written down as they were actually uttered, altering nothing in them in the writing-down process. This is what gives this written recording of the Teachings its characteristic flavor.
Gesprochenes und geschriebenes Wort sind in ihrem Wesen voneinander verschiedene Ausdrucksformen des Gedankens, Empfindens usw. Der gleiche Gedanke erfordert eine andere Darstellung, wenn er ausgesprochen und wieder eine andere, wenn er „ausgeschrieben” wird. Gesprochenes und geschriebenes Wort sind voneinander unabhängig, beide beziehen sich immer unmittelbar auf den inneren Gehalt, den es auszudrücken gilt. Wurde nun bei der Durchbrechung des Niederschreibverbots das gesprochene Wort ohne jede Umwandlung niedergeschrieben, so bedeutet dies: nicht die schriftliche Ausdrucksform für den Lehrinhalt wurde damit geschaffen, sondern nur die schriftliche Notiz für die mündliche Ausdrucks-form. Die Niederschrift ist nicht das geschriebene Wort der Lehre, sondern das niedergeschriebene „gesprochene Wort”. Nicht die Lehre fand hier einen ihr angemessenen und damit wesenhaft verbundenen schriftlichen Niederschlag, sondern ihre mündliche Ausdrucksform eine technische Fixierung. So wurde die Niederschrift das, was sie werden sollte — ein mnemotechnisches Hilfsmittel, welches ein Vergessen unmöglich machen sollte; die Lehre aber blieb, was sie war — mündliche Lehre. Der talmudische Stil ist der Stil des gesprochenen und nicht der des geschriebenen Wortes. The spoken and the written word are two fundamentally differing forms of expressing thought, feeling, and so on. One and the same thought needs to be represented differently according to whether it is uttered or “written out.” The spoken and the written word are independent of each other, both always relating directly to the inner content which is to be expressed. If now, with the breaching of the ban on writing down, the spoken word was written down unaltered, this means: this operation did not create the written form of expression for the content of the teaching, only the written notes of the oral form of expression. That which is written down — the notes — is not the written word of the Teachings, but the recorded “spoken word.” It was not the Teachings which here acquired a written expression appropriate to and hence intrinsically associated with them; rather, their oral form of expression was technically recorded. Thus the record became what it should have been — a mnemonic aid designed to make it impossible to forget; but the Teachings remained what they were — oral teachings. The Talmudic style is the style of the spoken word, not the written.
Diese Niederschrift des gesprochenen Wortes ist allerdings vor allem durch zwei „Mängel” gekennzeichnet. Das gesprochene Wort ist in seinem Wesen knapper als das geschriebene, deshalb, weil es nicht alles selbst zu sagen braucht. Es wird immer in einer ganz konkreten Situation gesprochen, die selbst „mitspricht” und den Wortinhalt bereichert. In der Situation des Gesprächs kann schon eine leichte Bewegung, von der ein Wort begleitet wird, einen ganzen Satz bedeuten. Und in der Unterhaltung der Gelehrten in den Talmudhochschulen konnte die Frage „warum?” oder „woher weiß man es?”, von bestimmten Menschen im bestimmten Augenblick gesprochen, so inhaltsreich sein, daß sie schriftlich dargelegt weitläufiger Darlegungen bedürfte. Durch die Niederschrift des gesprochenen Wortes wird sein situationserfüllter Bedeutungsreichtum nicht festgehalten. Das Wort verarmt, bzw. es wird zu eng für seinen ursprünglichen Sinngehalt, es wird zum „Stichwort”. — Weiterhin kann durch die eigenartige Niederschrift der mündlichen Lehre ein anderes wesenhaftes Merkmal des gesprochenen Wortes nicht zum Ausdruck gebracht werden, nämlich seine Betonung. Das gleiche Wort kann verschiedenes besagen; je nachdem, in was für einem Tonfall es ausgesprochen wird, kann es ironisch und ernst gemeint sein, Frage oder Antwort bedeuten, Hoffnung oder Resignation, Verwunderung und Zweifel ausdrücken. Was der Redner mit einer Geste, einem bestimmten Tonfall sagen kann, muß der Schriftsteller oft in langen Abhandlungen darlegen. Niedergeschrieben wurde nur das Wort, nicht aber sein Rhythmus, sein Ton. Das ohne Ton und ohne seine „Melodie” schriftlich festgehaltene gesprochene Wort ist aber auch nur Stichwort für den Sprecher. Durch diese beiden „Mängel” wurde aber das Niederschreib-Verbot auf geniale Weise durchbrochen: die mündliche Lehre wurde schriftlich niedergelegt, und doch wurde die Lehre nicht niedergeschrieben. Das niedergeschriebene gesprochene Wort war das Stichwort für das Gedächtnis. This record of the spoken word is, however, characterized above all by two “shortcomings.” By its nature the spoken word is shorter than the written because it does not need to say everything itself. It is always spoken in a very specific situation which “has its own say,” expanding on the content of the words. In a conversational context, the slightest movement accompanying a word can intimate an entire sentence. And in the conversation of the scholars at the Talmud academies, the question “why?” or “how is this known?,” when uttered by certain people at a certain moment, could be so full of meaning that, when expressed in writing, it would require additional explanation. When the spoken word is transcribed, its contextually determined wealth of meaning is not recorded. The word becomes impoverished, or alternatively it becomes too limited for its original substantive content: it becomes a “keyword.” Furthermore, the characteristic form of recording the Oral Teachings is incapable of expressing another essential characteristic of the spoken word: its intonation. The same word can mean different things; depending on the tone of voice in which it is uttered, it may be meant ironically or seriously, be a question or an answer, express hope or resignation, amazement and doubt. What the speaker can say with a gesture, a particular tone of voice, must often be explained by the writer in a lengthy treatise. It is only the word which is written down, stripped of its rhythm, its intonation. Hence the spoken word which is recorded in writing in the absence of its intonation and its “melody” is nothing but a keyword for the speaker. Yet these two “shortcomings” made possible an inspired breaking of the ban on writing down: the Oral Teachings were reduced to writing, and yet the Teachings were not written down. The spoken word which was written down was the keyword of memory.
Dies bedeutet aber: ein Gedächtnis muß immer vorhanden sein, d. h. der Talmud mußte auch nach seiner Niederschrift mündlich gelehrt, von Meistern auf Schüler überliefert werden. Das Stichwort mußte wieder in gesprochenes Wort aufgelöst werden. Wie der Knoten im Taschentuch nur den an etwas erinnert, der ihn geknüpft hat, so konnte die mnemotechnische Niederschrift der mündlichen Ausdrucksform der Lehre nur von denjenigen wieder in gesprochenes Wort verwandelt werden, die durch sie an etwas erinnert wurden, also durch die Menschen, die die Lehre wie die Generationen vor ihrer Niederschrift in den Lehrhäusern von ihren Meistern empfingen und die sie dann an Hand der schriftlichen Fixierung nur zu wiederholen brauchten. Daran hat sich im Grunde genommen bis heute nichts geändert. Die „Knotensprache” der Niederschrift kann nur von dem gedeutet werden, den sie an bereits Gelerntes „erinnert”. Die eigentliche Bedeutung der grundlegenden Talmudkommentare, die zum großen Teil auf Überlieferung beruhen, besteht darin, daß sie versuchen, in der mündlichen Ausdrucksform der Lehre den Lehrinhalt zu ergründen. Die Auflösung der Niederschrift in gesprochenes Wort jedoch bleibt weiterhin Aufgabe des Lernenden. Vor allem diese Zurückverwandlung der „Notiz” in das „Wort” ist „mündliche Lehre” geblieben. What this means, however, is: a memory must always be present, that is, the Talmud always had to be taught orally according to its record, handed down from masters to students. The keyword had to be re-resolved into the spoken word. Just as the knot in the handkerchief is only a reminder to the person who has tied it, so the mnemonic writing down of the oral form of expression of the Teachings could only be turned back into the spoken word by those whom it reminded of something, in other words by those people who, like the generations before they were written down, received the Teachings in the houses of study from their masters and then only needed to review them on the basis of the written recording. Basically, nothing in this scenario has changed to this very day. The “knot language” of the record can only be understood by the person whom it “reminds” of something already learned. The real importance of the fundamental Talmud commentaries, which for the most part are founded on tradition, lies in the fact that they try to explore the didactic content in the oral form of expression of the Teachings. Resolving the written-down material into the spoken word, however, continues to remain the task of the person studying. Above all, “oral teachings” have remained this changing of the “notes” back into the “word.”
Der Talmud kann nicht „gelesen” werden, man muß ihn „sprechen”. Daher auch die bezeichnenden Wendungen des Kommentars Raschi zu bestimmten Sätzen: „Bitmija”, d. h. „dies ist zu sprechen im Tonfall der Frage”, oder: „B’nichuta”, was bedeutet: „dies ist zu sprechen im Tonfall der ‚Ruhe‛ (z. B. der Antwort, einer Bestätigung usw.)”. Der traditionelle Singsang, mit dem der Talmud gelernt wird, der Niggun des Lernens ist der ursprünglichste Talmudkommentar; er ist die Umwandlung des niedergeschriebenen gesprochenen Wortes in das lebendige Wort der mündlichen Lehre. (Eine Interpunktion kennt der Talmud nicht, weil sie auch das Sprechen nicht kennt. Der Niggun des Lernens ist gleichzeitig eine „akustische Interpunktion”.) Man kann also sagen: C’est le ton qui fait le Talmud. The Talmud cannot be “read,” it must be “spoken.” This is also the reason for the Rashi commentary’s characteristic expressions about certain sentences: “bitmiya,” that is, “this is to be expressed with the intonation of a question,” or: “benichuta,” meaning: “this is to be uttered with an intonation of ‘gentleness’ (e.g. the reply, a confirmation, etc.).” The traditional sing-song with which the Talmud is studied, the niggun of studying, is the original Talmud commentary; it is the conversion of the recorded spoken word into the living word of the Oral Teachings. (The Talmud has no punctuation, because speaking also has no punctuation. The niggun of studying is at the same time an “acoustic punctuation.” So one can say in French: C’est le ton qui fait le Talmud. (It is the intonation which makes the Talmud.)