3. Talmud und Wissenschaft
Das enge Verhältnis, das zwischen Talmud und dem Leben des Volkes besteht, bestimmt auch die Beziehung von Talmud und Wissenschaft, die wir im folgenden nur kurz streifen können.
Der Talmud geht immer von dem „Fall” aus. („Zwei halten ein Kleid; der eine sagt …, der andere sagt …” Baba Mezia, Mischna I.)
Die Frage des Talmuds lautet: Was fordert das Gesetz in dem bestimmten Fall? Sie ist eine praktische und keine wissenschaftlich-theoretische Frage. Der Talmudist steht mitten im Leben seines Volkes, das ihn mit unzähligen Fragen bedrängt, und auf die er, die Konsequenzen aus der Lehre ziehend, die Antwort sucht. Das jüdische Volk verfügt über kein literarisches Dokument, das so lebensnahe wäre wie der Talmud. Talmudistik ist keine theoretisch-sophistische Haarspalterei, sondern der strenge und konsequente Wille der Nation, das Leben in klarer Sachlichkeit unter dem Gesichtspunkt der ewigen Lehre zu gestalten.
Der Talmud wächst am Leben des Volkes, deshalb ist sein Anfang der „Fall”; die Wissenschaft dagegen beginnt mit dem Begriff. Der Fall, der zur Entscheidung steht, ist die Frage des Lebens. Die Fragen der Wissenschaft jedoch sind Probleme. Das Problem wird durch Hypothesen gelöst, die Frage aber erheischt Antwort. Hypothesen brauchen nur möglich zu sein, Antworten müssen zwingend sein. Die Wissenschaft meint, die Lehre muß wissen. Daher die scharfe Diskussion im Talmud, die erst dann abgeschlossen werden kann, wenn eine Antwort sich als zwingend erwiesen hat, oder, wie es ein großer zeitgenössischer Gelehrter im Laufe einer Diskussion in seiner Jeschiwa sagte: „Man kann so sagen” — ist keine Antwort, „man muß so sagen” — ist die Antwort.
Talmud ist keine Wissenschaft; Talmud ist wie die Bibel selbst Lebenslehre. An den Gegensatzpaaren: Fall — Begriff, Frage — Problem, Antwort — Hypothese ist der wesenhafte Unterschied zwischen Wissenschaft und Lehre wohl am klarsten zu erkennen.
Allerdings muß beachtet werden: Wenn auch Lehre keine Wissenschaft ist, so setzt sie doch wissenschaftliche Erkenntnisse voraus. (Die medizinische Sprechstunde ist ohne klinische Forschung nicht denkbar. Der praktischen Gerichtsbarkeit müssen theoretisch-juristische Erkenntnisse vorangehen.) Talmud als die Lehre von den Verwirklichungsformen der Tora ist ohne die wissenschaftliche Verarbeitung der Begriffe, die ihr zugrunde liegen, nicht möglich. Wobei es nicht darauf ankommt, ob der Talmudist sich seiner wissenschaftlichen Leistung bewußt wird, sondern nur darauf, daß er die Begriffe und Probleme, die der Lehre vorangehen, in wissenschaftlicher Klarheit durchdenkt. Auch vor Plato und Aristoteles war logisches Denken in begrifflicher Klarheit möglich. Die Deuteregeln des Midraschs sind die wissenschaftlichen Ergebnisse einer hochentwickelten Logik, die im Talmud nicht erst gelehrt, sondern bereits angewandt wird. Eine große Anzahl von Prinzipien und theoretischen Grundsätzen erscheinen im Talmud als abgeschlossene Erkenntnisse, die selbst nicht mehr diskutiert werden; diskutiert wird immer nur ihre Anwendungsmöglichkeit im „gegebenen Fall”. Daß man aber mit ihnen ohne weiteres operieren kann, beweist, daß sie bereits vorher in ihrem Wesen theoretisch geklärt worden sind. Ein Beispiel: Ähnlich wie es in der Erkenntnistheorie ein Problem der „Beständigkeit der Erscheinungen” gibt, kennt auch der Talmud einen Begriff der „Beständigkeit”, die sog. „Chasakka”. „Beständigkeit” ist im Talmud allerdings kein Problem, sondern ein Grundsatz, der etwa besagt: Ein einmal wahrgenommener Zustand usw. usw. gilt so lange als weiterbestehend, bis wir uns vom Gegenteil überzeugt haben. Dieser Grundsatz und viele andere ähnlicher Art werden im Talmud bereits angewandt; der Anwendung muß jedoch die philosophische Erklärung des Begriffs vorangegangen sein.
Da Lehre nicht Wissenschaft ist, so ist zu erwarten, daß ihr systematischer Aufbau nicht verwechselt werde mit der Systematik einer wissenschaftlichen Disziplin. Wer mit wissenschaftlichen Vorurteilen an die Lehre herantritt, wird auch die Lehre nicht finden.
Tora ist Lehre und keine Wissenschaft.