Einleitung. Im Pentateuch werden zwei Arten von Gelübden unterschieden: 1) נִדְרֵי הֶקְדֵּשׁ, Weihegelöbnisse, d. h. Gelübde, durch die jemand ein ihm gehöriges Gut, ein Tier oder einen leblosen Gegenstand für den Altar (קדשי מזבח) oder für die Unterhaltung des Tempels (קדשי בדק הבית) weiht, sei es als נדר im engern Sinne durch die Formel: „הרי עלי, mir liegt ob, z. B. עולה, ein Ganzopfer = ich verpflichte mich ein Ganzopfer darzubringen,“ sei es als נדבה durch die Formel: „הרי זו, dieses liegt mir ob, z. B. עולה, als Ganzopfer = ich verpflichte mich dieses [Tier] als Ganzopfer darzubringen.“ Im erstern Falle übernimmt er eine persönliche Verpflichtung, sodass, wenn das Tier, das er zu deren Lösung bestimmt hat, stirbt oder zum Opfer untauglich ist, er ein andres darbringen muss. Im letztern Falle hingegen übernimmt er nur eine sachliche Verpflichtung, sodass, wenn das Tier, das er zum Ganzopfer geweiht hat, stirbt oder untauglich ist, seine Verpflichtung erlischt, da sie sich nur auf dieses eine, bestimmte Tier bezogen hat (Lev. 7, 16; 22, 21. Meg. I, 6). 2) נִדְרֵי אִסָּר, Verbotgelöbnisse, d. h. Gelübde, durch die der Genuss oder die Nutzniessung eines Gegenstandes einem Menschen verboten wird, sei es dass jemand den Genuss seines Eigentums sich selbst oder einem andren entzieht, sei es dass er den Genuss eines fremden Eigentums sich selbst versagt. Diese Gelübde können mit bindender Kraft in drei verschiedenen Formen stattfinden: a) Indem jemand sagt: „דבר זה עלי אסור, dieser Gegenstand [meines Besitzes] sei mir [resp. Dir, ihm, u. s. w.] verboten“, oder: „dieser Gegenstand [eines fremden Besitzes] sei mir verboten“. Diese Formel kann noch dadurch erweitert werden, dass man dem Gegenstande, dessen Genuss man sich oder einem andren versagen will, den Character eines solchen Gegenstandes beilegt (התפסה), der seinerseits erst durch das Weihegelöbnis eines Menschen dem profanen Gebrauch entzogen, nicht aber an sich schon durch ein Thoragesetz zum Genusse verboten ist. Korrekt also und darum gesetzlich gültig wäre z. B. die Formel: „זה יאסר עלי כקרבן דבר, dieser Gegenstand sei mir verboten wie ein Opfer“, da das Opfertier seine Weihe erst durch die Bestimmung eines Menschen erhalten hat. Inkorrekt aber und darum gesetzlich ungültig wäre z. B. die Formel: „עלי כדם דבר זה יאסר, dieser Gegenstand sei mir verboten wie Blut“, da das Verbot des Blutes nicht erst durch die freie Bestimmung des Menschen bedingt, sondern bereits durch das Gesetz der Thora gegeben ist. b) Indem man statt der eigentlichen Gelöbnisformel eine Umschreibung, eine Nebenbezeichnung gebraucht, z. B. „דבר זה עלי קונם, dieser Gegenstand sei mir Konam“, wobei קונם eine Umschreibung für קרבן ist. c) Indem man die Gelöbnisformel nicht vollständig ausspricht, sondern nur dem Sinne nach andeutet, sodass der Ausspruch gleichsam den „Ansatz“ oder die „Handhabe“ des Gelöbnisses bildet, z. B. „מודרני ממך שאיני אוכל לך, es sei mir durch Gelübde verboten, von dem Deinigen etwas zu geniessen“; solches Gelübde ist verbindlich, obgleich man nicht ausdrücklich gesagt hat: „es sei mir verboten wie ein Opfer“. Der Tractat Nedarim nun, dessen Grundlage in Num. 30, 2—17 gegeben ist, handelt von dieser zweiten Art von Gelübden, den Verbotgelöbnissen, denen sich noch die Bann- und Sehwurformeln ansehliessen (חרם ושבועת אסר), durch die man sich gleichfalls einen Genuss versagt, während sich die wichtigsten Bestimmungen über die Weihegelöbnisse in der Ordnung Kodaschim finden. In der Mischna versteht man unter נודר denjenigen, der sich durch Gelübde den Genuss seines eigenen oder eines fremden Besitzes versagt, unter מדיר denjenigen, der einem andren den Genuss seines Eigentums entzieht, und unter מודר denjenigen, dem dieser Genuss durch sein eigenes Gelübde oder durch das eines andren verboten ist. Für die Aufnahme des Tractates Nedarim in die Ordnung Naschim war der Umstand entscheidend, dass das Capitel von den Gelübden Num. 30 im wesentlichen die Gelöbnisse des Weibes und deren Lösung durch den Vater oder den Gatten zum Gegenstande hat (Maim. Einleitung in die Mischna). Unser Tractat schliesst sich an Ketubot an, weil der Gatte nur dann das Recht hat, die Gelübde seiner Frau zu lösen, wenn seine Ehe nach den in Ketubot niedergelegten Bestimmungen rechtsgültig geschlossen ist (ibid.), oder aber weil der VII. Abschnitt jenes Tractates bereits mehrfach von den Gelübden der Frau handelt und somit Nedarim in gewissem Sinne als Fortsetzung von Ketubot erscheint (Sota 2a). Der Tractat Nedarim zerfällt in 11 Abschnitte, deren Inhalt im einzelnen folgender ist: I. Die Umschreibungen und die unvollständigen Formeln, die die bindende Kraft eines Gelübdes haben. II. Die einer Gelöbnisformel ähnlichen Ausdrucksweisen, die nicht die bindende Kraft eines Gelübdes haben. Unterschied zwischen Eid und Gelöbnis. Wirkung zweideutiger Gelöbnisformeln. III. Vier Arten von Gelübden, die keine bindende Kraft haben. Deutung einzelner Gelöbnisformeln. IV. Bestimmungen über das Verhalten einer Person, der eine andre den Genuss oder die Nutzniessung ihres Eigentums verboten hat. Ausnahmen. V. Bestimmungen über das gegenseitige Verhalten zweier Personen, die ein gemeinsames Besitztum haben und den Genuss ihres Eigentums einander verboten haben. Ausnahmefälle, in denen das Verbot einer Person gegen eine andre seine bindende Kraft verliert. VI. Erklärung von Gelöbnisformeln, durch die eine Person einer andren den Genuss bestimmter Speisen versagt. VII. Fortsetzung. Erklärung von Gelöbnisformeln, durch die eine Person einer andren den Gebrauch bestimmter Haus- und Wirtschaftsgegenstände entzieht. Gelöbnisformeln, durch die der Gatte sich den Genuss des Erwerbes seiner Frau versagt oder durch die er seiner Frau den Genuss seines Eigentums für bestimmte Zeit verbietet. VIII. Gelübde, deren Wirksamkeit an eine bestimmte Frist gebunden oder von dem Eintritt eines bestimmten Ereignisses abhängig gemacht ist. IX. Bedingungen, unter denen die Lösung von Gelübden möglich ist. X. Aufzählung der Personen, die befugt sind die Gelübde eines Mädchens oder einer Frau zu lösen. XI. Bestimmungen über die Art von Gelübden, die der Vater oder der Gatte lösen kann. Irrtum oder Unkenntnis hinsichtlich der Gelübde und deren Lösung. Personen, deren Gelübde stets bindende Kraft haben.